Wolfgang Jezek

Lyrik und Prosa

Aktuelle Haikus (2018 – 2020)

CORONA-KRISE

Alles geschlossen. Unsere Welt hält im Griff ein winziges Virus.

Vogelgezwitscher statt Autolärm. Trügerisch ist diese Ruhe.

Üppiger Frühling. Durch Fensterscheiben wird er heuer bewundert.

Tafel im Weinberg: Ausgsteckt is! Wann wird wieder ausgesteckt? Ja, wann?

Corona-Krise. Die Bahnsteige leergefegt. Umso mehr wird geputzt.

Zum Corona-Schutz sind Mund und Nase verdeckt. Die Augen sprechen. (April 2020)

IN BAD ISCHL (Traun, immer wieder)

Unruhige Traun. Schmelzwässer wälzen sich schnell und laut flussabwärts. (April 2018)

Die Wellen sagen: Wir verändern uns ständig und bleiben doch gleich. (April 2018)

Wer ist lauter? Die mächtige Traun oder die zirpende Grille? (Juli 2018)

Es blitzt und glitzert und schimmert. Gott hat Gold ins Wasser geworfen. (Februar 2019)

Weiser Fluss weist den Weg: lässige Tätigkeit, die unablässig. (März 2019)

IN DER NATUR (Haikus)

Brütende Hitze. Der Specht schlägt Löcher in die Mittagsstille. (Juli 2020)

Nur bimmeln, fressen, scheißen, begattet werden. Schönes Kuhleben. (Juni 2020)

Zwei dicke Hasen im Feld, vorsichtig hoppelnd, machen mich glücklich. (Mai 2020)

Frühling. Erwartungs- volle Furchen. Hoffnung, in den Boden gesetzt. (März 2020)

Im Juli. Ein gelb verfärbtes Blatt am Asphalt. Der Herbst lässt grüßen. (Juli 2019)

Gedichte (2015-2017)

FREITAGNACHMITTAG IN DER INNENSTADT

Die Glocken läuten. Christus ist gestorben. Menschen lächeln und tragen volle Einkaufssäcke. Die Glocken läuten. Der Asphalt tut sich auf und gibt den Blick frei in die andere Welt. Nein, nicht zwei- mehrere Welten sind es. Der alte Freund geht neben mir, wir gehen dem Tod entgegen. Vorher gibt es aber einen ganzen Sack voll Leben. (März 2017)

SCHEEWITTCHEN IM SARG

Beim Betreten des Wirtshauses lag dicker Tabakqualm in der Luft. Wir waren mitten im Blaufränkischland, der Wein schmeckte gut. Der Freund der Toten lief konfus herum und weinte wie ein kleiner Bub, der seine Mutter im Schwimmbad verloren hatte. Schneewittchen lag im Sarg. Sie hatte schöne lange blonde Haare gehabt. Ihr vom Magersucht und Alkohol geschundener Körper wurde zu Grabe getragen. Die Leber hatte versagt. Ihr Vater war schon Alkoholiker gewesen und ihr Großvater auch. In ihrer Freizeit hatte sie gern Gedichte geschrieben. Die Gefühlslage der Hinterbliebenen schwankte zwischen Trauer und Wut, Enttäuschung und Erschütterung. Wir schworen uns, nie wieder etwas zu trinken. Zu Hause sagten wir zueinander: Prost! (Nach dem Begräbnis einer Cousine) (Feb. 2017)

TERRORANSCHLAG

Ein paar Tage vor Weihnachten fuhr in Berlin ein riesiger Lastwagen in einen Weihnachtsmarkt, tötete Weihnachtsmann und Christkind und zwölf weitere Menschen.

Nach dem ersten Schrecken gingen die Leute zu den zerstörten Buden, nahmen sich, was sie brauchen konnten, hängten die Sachen am Christbaum auf und sangen: Stille Nacht! Und das Leben ging weiter. (20.12.2016)

ABSCHIED VON CHRISTINE LAVANT

Wellen der Vergangenheit rollen auf mich zu- Ja, so könnte es gewesen sein. Ich gebe dir dein Leiden zurück und alles, Was dich belastet hat: Die Kälte der Mansarde, das Brennen der Röntgenstrahlen, den beißenden Spott deiner Schulkameraden, die Wunden der Liebe, den Schmerz der Vergeblichkeit, die Rolle als Aussätzige in deinem Dorf, die Tücken des Ruhms, den Hohn der öffentlichen Ehrungen, die bangen Ahnungen, die sengenden Strahlen der Sonne, die Qualen der Schlaflosigkeit, den Nebel des Tabakrauchs, die Hartherzigkeit und die Selbstsucht der Männer, die Schande der Armut und der niedrigen Geburt, Krankheit und Schwäche als lebenslange Begleiter. Ich wende mich ab von Mondkreuz und Grab Und höre dich noch eine Weile leise kichern. (6.9.2016)

ORGELMUSIK

Der Himmel steht offen. Heilige fliegen ein und aus in goldenen Gewändern, begleitet von tausenden Tauben, die die Seelen der Verstorbenen zu Gott hin transportieren. Dem Meister an der Orgel tropft der Schweiß von der Stirn, die Perücke ist verrutscht, während zwölf weißgekleidete Kalkanten sich vor Lachen nicht halten können. (Herbst 2016)

LITERATUR

Nimm das einzelne Schicksal wichtiger als die Welt. Grab nach den verborgenen Geschichten, leg immer wieder den Finger in die Wunde und zeig auf, dass die Vergangenheit nie zu Ende ist. Sei lästig, konsequent und penetrant in deinem vergeblichen, trotzigen Widerstand. (Herbst 2016)

BAD ISCHL

Ich atme den Fluss ein und aus. Mein Herz klettert auf Berge und singt einen Jodler. Die Marillenknödel beim Zauner- eine Ahnung von Ewigkeit. (Sommer 2016)

WEIHNACHTEN IN DER STADT

Als die Sonne unterging, lag ein sattes Leuchten auf den Dächern. Die Menschen, die mir entgegen kamen, schienen zu schweben. Einkaufssäcke hüpften in ihren Händen. Auch in den bittersten Gesichtern lag eine Hoffnung. Die Pferde der Fiaker nickten mit ihren Köpfen, meine Füße fanden von selber den Weg. Es war ein geweihter Tag vor einer geweihten Nacht- Weihnachten. (23.12.2015)

NÄCHTLICHE INSEL

Das Meer wirft Wind und Wut ans Land. Welle folgt auf Welle, dann folgen rollende Angriffe gegen mich selbst. Wehrlos fühle ich mich nachts, und nackt. (Sept. 2015)